Eigentlich ähneln wir Menschen uns doch sehr, teilen viele Äußerlichkeiten, durchleben ähnliche Lebensphasen und manchmal auch Krisen, haben vergleichbare Bedürfnisse und Gefühle. Trotzdem können sich unsere persönlichen Erfahrungen sehr stark unterscheiden und hierbei spielt die Gesellschaft eine wesentliche Rolle. Und mit Gesellschaft meine ich nicht die Nachbarn von nebenan oder den Schützenverein, sondern die Gesamtheit der Menschen, die - in unserem konkreten Fall hier - in Deutschland leben.
Damit ein Zusammenleben von so vielen Menschen überhaupt gelingen kann, gibt es Artefakte wie die Gesetzgebung und Bildungseinrichtungen, die ein gemeinsames Normen- und Wertesystem vertreten. Dieses bestimmt wesentlich, was wir im Laufe unseres Lebens als richtig oder falsch wahrnehmen. Wenn Abbildungen von Familien in Schulbüchern immer die gleiche Konstellation zeigen, nämlich Mutter, Vater und Kind (üblicherweise alle auch ausschließlich hellhäutig), dann entstehen daraus automatisch heteronormative Glaubenssätze, die beeinflussen, wie wir fühlen, denken und handeln. Gut, dass sich in den letzten Jahren schon viel in Bezug auf die Darstellung gesellschaftlicher Vielfalt in Bildungsmaterialien getan hat. Sicherlich ein wichtiger Artefakt für gesellschaftliche Entwicklung und in einer Gesellschaft vorherrschende Glaubenssätze.
Was heißt das genau? Glaubenssätze sind Annahmen, die wir über uns selbst und die Welt haben. Konkret kann sich aus dem oben geschilderten Zustand die Annahme ergeben, dass zwei Männer keine Familie sein können. Und nicht nur Max Mustermann hat diesen Glaubenssatz, sondern möglicherweise auch Piet (fiktiver Charakter), der sich zwar eine Familie wünscht, aber sich nicht zu Frauen hingezogen fühlt. Daraus entstehen innere Konflikte, die in der Lebenswirklichkeit von Max überhaupt nicht vorkommen. Klar, Max hat vielleicht auch Ängste im Zusammenhang mit der Familienplanung, aber er trägt dabei vermutlich nicht den Glaubenssatz in sich, dass es falsch ist so wie er ist.
Und bis vor der offiziellen Abschaffung des § 175 StGB (Sonderstrafrecht gegen Homosexualität) im Jahr 1994 war das nicht nur ein Glaubenssatz, sondern sogar gesetzlich in Deutschland verankert (wenn auch als Relikt aus vordemokratischer Zeit). Seitdem hat sich glücklicherweise für queere Menschen viel zum Besseren verändert - sei es die zunehmende gesetzliche Gleichbehandlung (u. a. "Ehe für alle" seit 2017) oder die zunehmende gesellschaftliche Sichtbarkeit, u. a. durch den jährlichen Pride Month im Juni - und trotzdem kämpfen viele LGBTQIA+ auch heute noch mit internalisierter Queernegativität, eine Form der Selbstentwertung und -verachtung. Denn trotz aller Fortschritte, ist Heteronormativiät immer noch weit verbreitet, obgleich es sicherlich regionale Unterschiede gibt. So zeigt auch die Deutschlandkarte zu gleichgeschlechtlichen Ehen seit 2017, dass es deutliche regionale Unterschiede in Bezug auf die Anzahl gleichgeschlechtlicher Eheschließungen gibt.
Anzeichen von internalisierter Queernegativität sind beispielsweise, dass es einer Person unangenehm ist, bestimmte Worte wie "lesbisch" und "schwul" auszusprechen oder ein beschämendes Gefühl zu empfinden, wenn sich öffentlich zwei gleichgeschlechtliche Personen küssen. Hierbei handelt es sich selten um einen bewussten Prozess, vielmehr handelt es sich um eine verinnerlichte Einstellung, aufgrund sozialer Konventionen.
Auch der Grundgedanke bzw. die Erwartung, dass queere Personen sich outen müssten, bietet einen hervorragenden Nährboden für den Glaubenssatz, dass ausschließlich Heterosexualität "normal" bzw. "richtig" ist (vorausgesetzt natürlich es handelt sich hierbei um einen Cis-Mann und -Frau). Wahrscheinlich hat sich bisher keine heterosexuelle Person ernsthaft mit der Frage beschäftigt, ob und wie sie sich am besten als solche outen sollte. Und auch wenn der Ursprungsgedanke hinter dem Prozess eines Coming-Outs - nämlich das absichtliche und öffentliche Bekanntmachen der sexuellen Identität oder Geschlechtsidentität - in der Vergangenheit wichtig war, um Sichtbarkeit für LGBTQIA+ zu schaffen, schwingt auch heute noch für viele Personen häufig ein Gefühl der Schuld und des "Beichtens" mit.
Aus meiner Sicht brauchen wir heute keine Outings oder Coming-Outs mehr, sondern einen genauso selbstverständlichen Umgang wie mit heteronormativen Lebensweisen, indem wir in Erzählungen beispielsweise vom Partner oder der Partnerin sprechen. Wenn wir irgendwann dann so weit sind, dass dies beim Gegenüber nicht zu etwaigen Aussagen wie "Ach so, das sieht man dir gar nicht an." oder "Schön, also ich hab' da ja gar nichts gegen." führt (implizite sprachliche Diskriminierung) und bunte Normalisierung sowie tatsächliche Gleichbehandlung herrscht (z. B. dass gesetzliche Krankenkassen auch bei gleichgeschlechtlichen Paaren eine Kinderwunschbehandlung finanziell unterstützen), dann ist wahrscheinlich auch kein expliziter Beratungsschwerpunkt für LGBTQIA+ mehr nötig, weil sich die erlebten Probleme und Anliegen kaum noch unterscheiden würden.
Und auch wenn wir im europäischen Vergleich in Deutschland auf einem guten Weg in diese Richtung sind, gibt es für die Gleichbehandlung noch einiges zu tun. Deutschland liegt in Bezug auf Queerfreundlichkeit seit Jahren nur im europäischen Mittelfeld laut „International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association Europe“ (ILGA Europe). Die Regenbogen Landkarte zeigt mit dunkelgrüner Färbung, welche Länder im europäischen Vergleich besonders queerfreundlich sind. Hier sehen wir, dass insbesondere die Nordischen Länder, aber auch Belgien und Spanien in den betrachteten sieben Kategorien (1. Gleichheit und Nichtdiskriminierung; 2. Familie; 3. Hassverbrechen und Hassreden; 4. rechtliche Anerkennung des Geschlechts; 5. Intersexuelle körperliche Unversehrtheit; 6. zivilgesellschaftlicher Raum; und 7. Asyl.) am besten abschneiden. Ein detailliertes Ranking der Länder nach ihrer Queerfreundlichkeit und weitere Informationen zu dem Thema könnt ihr hier finden: https://rainbow-europe.org/country-ranking
Was sind das also beispielsweise für Themen und Anliegen, mit denen LGBTQIA+ und Regenbogenfamilien zu mir kommen, die in heteronormativen Gemeinschaften nicht auftreten?
Du hast Angst, dass deine Familie oder Freunde dich ablehnen könnten, wenn sie von deiner sexuellen Orientierung und/oder Identität erfahren.
Dir fällt es schwer, in der Öffentlichkeit die Person zu sein, die du bist, weil du negative Reaktionen erwartest oder vielleicht auch schon negative Erfahrungen gemacht hast.
Vielleicht verspürst du auch immer wieder ein Schamgefühl, weil du denkst, dass du so wie du bist eigentlich nicht sein darfst.
Du möchtest gerne eine Familie gründen, aber hast die Befürchtung, dass deine Lebensweise negative Folgen für das Kind haben könnte.
Deine Familie lehnt dich ab, aufgrund deiner sexuellen Orientierung und/oder Identität. Geht es nach ihnen, sollst du deine Queerness für dich behalten und nicht nach außen tragen.
Du befürchtest, dass du von anderen gemieden wirst oder sogar ein Kontaktabbruch erfolgt, wenn du offen mit deiner sexuellen Orientierung oder Identität umgehst. Vielleicht hat sich die Befürchtung auch schon bestätigt und belastet dich.
Auf deiner Arbeit soll niemand etwas über deine sexuelle Orientierung oder Identität wissen, aber das ständige Versteckspiel fühlt sich nicht gut an.
Dein Partner oder deine Partnerin möchte in der Öffentlichkeit lieber auf Distanz bleiben aus Angst vor möglichen Reaktionen. Dich verletzt das aber sehr.
Du haderst ständig mit dir selbst, bist voller Selbstzweifel und hast das Gefühl, dass alles so viel einfacher sein könnte, wenn du dich der traditionell heteronormativen Lebensweise anschließen würdest.
Deine sexuelle Orientierung oder Identität sorgt in deiner Nachbarschaft für mehr oder weniger explizite Anfeindungen, die dir das alltägliche Leben schwer machen.
Deinem Kind ist deine oder eure Lebensweise unangenehm und das belastet den Familienzusammenhalt.
Du fühlst dich mit deiner sexuellen Orientierung oder Identität alleine, weil es dir an Austauschmöglichkeiten mit anderen queeren Personen fehlt.
Die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen, aber ich denke, dass die oben genannten Punkte ausreichend verdeutlichen, dass Queersein mit Konfliktsituationen verbunden sein kann, die weit über die "üblicherweise" auftretenden - oder möglicherweise auftretenden - Schwierigkeiten im Leben hinausgehen. Und selbstverständlich heißt das nicht, dass diese anderen Schwierigkeiten weniger herausfordernd für die betroffene Person sind. Insbesondere Trennungen, persönliche Schicksalsschläge und der Verlust von Angehörigen können zu tiefgreifenden Krisen führen. Für queere Personen kommen diese aber eben noch "on top" und dieser Blogbeitrag soll veranschaulichen, warum es leider immer noch eines speziellen Angebots für LGBTQIA+ und Regenbogenfamilien bedarf.
Ich denke, wenn wir an den Punkt gekommen sind, dass die oben genannten Anliegen und Konfliktsituationen für queere Personen verschwinden, dann haben wir es als Gesellschaft auch endlich geschafft, Diversität oder Vielfältigkeit die Wertschätzung zu geben, die sie verdient. Bis dahin freue ich mich darüber, euch im Umgang mit diesen oder ähnlichen Herausforderungen eine Unterstützung sein zu können. Die Auflistung ist nur exemplarisch gemeint und ihr könnt euch selbstverständlich mit euren persönlichen Anliegen an mich wenden. Meldet euch gerne zum Beispiel über das Kontaktformular oder auch direkt telefonisch für ein kostenloses Vorabgespräch bei mir und vereinbart einen Termin zum Erstgespräch.
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